„Gleichwürdigkeit“, nicht zu verwechseln mit Gleichheit. Gleichwürdigkeit als neuer Maßstab für zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern zieht ihre Bedeutung, ihre Kraft und ihr Potential aus zwei Quellen. Die eine ist die klinische Erfahrung aus der Arbeit mit gestörten Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Die andere Quelle ist die wissenschaftliche Forschung der letzten 15 Jahre. Daniel N. Stern, Peter Fornagy und andere untersuchten die frühen Bindungen zwischen Eltern und Säuglingen. Eine ihrer Schlussfolgerungen ist, dass sich die gesündeste Beziehung und auch das optimale Gedeihen von Eltern und Kindern dann einstellen, wenn die Beziehung eine „Subjekt-Subjekt-Beziehung“ und keine „Subjekt-Objekt-Beziehung“ ist, in der das Kind das Objekt ist. Diese Forschung begründete in sich selbst ein neues Paradigma, das die meisten bisherigen „Wahrheiten“ der Entwicklungspsychologie auf den Kopf stellte.
Was ich „Gleichwürdigkeit“ nenne ist das, was eine „Subjekt-Subjekt-Beziehung“ von Natur aus kennzeichnet – eine Beziehung, in der die Gedanken, die Reaktionen, die Gefühle, das Selbstbild, die Träume und die innere Realität des Kindes genauso ernst genommen werden, wie die der Erwachsenen und vom Erwachsenen in der Beziehung berücksichtigt werden. Auf diesem Weg wird das Kind unter der Führung des Erwachsenen zum Mit-Gestalter seiner eigenen Welt. Das ist kein politisches Recht, aber es ist der Auftrag, die persönliche Integrität des Kindes sowie die des Erwachsenen zu schützen.
Wir leben in einer Zeit des Übergangs. Die Herausforderung besteht darin, Lehrern diese neue Einsicht und Perspektive nahe zu bringen,
- auch wenn sie selbst in ihrer Erziehung und Ausbildung von Eltern und Lehrern als Objekt in der Beziehung behandelt worden waren,
- auch wenn sie es als Heranwachsende mit Erwachsenen zu tun hatten, die Macht ausübten anstatt fürsorglich zu sein.
Viele Schulen und Lehrer – sowie viele Eltern – brauchten daher erst den Umweg über Verhaltenskontrolle und andere modernisierte Methoden. Sie übten weiter ihre Macht aus und missachteten die existenzielle Wirklichkeit beider, die der Erwachsenen und die der Kinder. Selbst wenn diese Methoden kurzfristig „funktionieren“, erkennen sie oft, dass der Preis, den sie dafür zu bezahlen hatten, sehr hoch ist.
Der Weg zur Gleichwürdigkeit ist schwierig – emotional wie intellektuell. Es ist schwer aufzuhören, im „Erwachsenen gegen Kind“ Modus zu denken. Es ist schwer, eine Haltung anzunehmen, die beiden Seiten gleich dient und nicht die Bedürfnisse des einen über die des anderen stellt. Der Fokus muss darauf gerichtet werden, was zwischen den beiden geschieht (Prozess). Das ist für Lehrer ein komplett neues Terrain. Sie wurden ausgebildet, ihr Augenmerk auf den Inhalt und die Präsentation zu richten. Darum treffen wir eine Menge Lehrer, die sehr großes Geschick im traditionellen Unterrichten besitzen. Sie haben aber noch nicht genügend zwischenmenschliche Fähigkeiten. Es fehlt ihnen das Können, destruktivem Verhalten konstruktiv zu begegnen.
zitiert aus dem Artikel von Jesper Juul (2006): “A comprehensive understanding of education and socialization” - “Ein umfassendes Verständnis von Erziehung und Sozialisation”, aus dem Englischen übersetzt von Christine Ordnung